Zieht ein Vogel in einen Briefkasten ein, verwendet ein Kind einen Kochtopf als Trommel oder werden lange Haare mit einem Bleistift zusammen gehalten, dann zeigt sich, dass obwohl diese Alltagsgegenstände nicht zu diesem Zweck entworfen wurden, sie sich durch Aneignung dazu verwenden lassen. Diesen Vorgang nennen wir Queer Use – spielerisch werden Gebrauchsgegenstände von ihrem Zweck entfremdet.
Werden Objekte, Lebewesen und Landschaften in eine digitale Game-Welt übersetzt, sind sie dort nicht mehr den physikalischen Gesetzen, sondern der Programmiersprache unterworfen. Ein Stuhl muss nicht mehr stabil sein, sondern kann sich wie Gummi verformen, wenn jemand darauf Platz nimmt. Eine Strasse kann sich während einem digitalen Spaziergang unendlich oft wiederholen, oder abrupt im leeren Grid enden. Wird ein politisches System wie eine Demokratie oder Diktatur in ein Videogame transformiert, kann ich als Spieler*in jede Rolle in diesem System ausprobieren, durchspielen und seinen Handlungsspielraum verstehen lernen. Dabei finden die Gamer*innen – gewollt oder nicht – unvorhergesehene Spielzüge oder Hacks, die den entworfenen Spielregeln zuwiderlaufen.
Im Spiel – so scheint es – lassen sich also Regeln, Gesetze, Normen und Konventionen erlernen, verstehen und ebenso leicht durchqueren oder hacken. Ausserhalb des Spiels sind diese Strategien und Praktiken jedoch nicht für alle zugänglich und anwendbar. Eine Reihe von Ausschliessungsmechanismen versperren die Teilhabe an dieser spielerischen Lebensweise. Meine mentale Identität, die Präsenz meines physischen Körpers, meine Herkunft, Religion und Sprache sowie meine Bildung und viele weitere Faktoren können Kriterien sein, vom Spiel ausgeschlossen zu werden. Wie können wir die im Spiel erarbeiteten Strategien und Praktiken auf das Leben ausserhalb ausweiten?
Das Projekt ist in drei Phasen aufgeteilt und lässt zu jedem Zeitpunkt den Austausch mit einem interessierten Publikum zu: In "Phase I – Anleitung lesen" vertiefen wir unsere theoretischen Kenntnisse der Queer Studies und Game Theorie und veranstalten öffentliche Workshops an der Schnittstelle von Theorie und kuratorischer bzw. künstlerischer Praxis. In "Phase II – Aufbau und Üben" erarbeiten drei künstlerische Forscher*innen aus den Sparten Game Design, Performance und digitale Kunst – Laurent Jakimow, Melody Chua und Sebastiaan Cator – drei individuelle Varianten, wie physische und digitale Systeme produziert, analysiert und schliesslich zweckentfremdet werden können. Der Wissensaustausch zwischen Kein Museum und den Künstler*innen findet über monatliche Treffen statt, die als Open Studios auch von weiteren Interessierten besucht werden können. Letztendlich wird in "Phase III – Spielen" ein Kunst-Game-Festival organisiert und die Projekte dem Publikum zur Interaktion freigegeben – vor Ort in Zürich, aber auch virtuell über das digitale Kein Museum.
Gemeinsam mit Jessica Sigerist und Sarah Klapisch von untamed.love, dem ersten sexpositiven und queer-feministischen Sexshop der Schweiz, werden wir Alltagsgegenstände zu Spielzeug umfunktionieren. Dabei profitieren wir von der Expertise von Jessica und Sarah in Bezug auf Sexspielzeug, sowie auch ihrer queeren Perspektive auf ein heteronormativ geprägtes Gesellschaftssystem.
Leitfragen: Alltag und Spiel stehen in einem dualen Verhältnis zueinander. Ein Objekt kann entweder Teil des Spiel- oder des Alltagssystems sein. Wie läuft dieser Wechsel von einem System ins andere ab? Welche Konsequenzen hat es für das Objekt und für die, die mit ihm Interagierenden? Wie spielen wir gemeinsam mit anderen und können Spielregeln und Konsens herstellen?
Leitung: Jessica Sigerist und Sarah Klapisch von untamed.love
Kooperation mit untamed.love: Expertinnen für Spiel(zeug) und Queerness
Untamed.love ist der erste sexpositive, queer-feministische Sexshop der Schweiz und stellt sich veralteten Rollenbildern und heteronormativen Vorstellungen entgegen. Untamed.love schafft eine Community für alle Geschlechter, Körper und sexuellen Orientierungen. In ihren Videos auf Instagram stellen Jessica und Sarah Sexspielzeug aus ihrem Sortiment vor und erklären die Funktionen und Anwendungsmöglichkeiten. Damit sind sie Expertinnen, Spielzeug zu verstehen und Spielregeln zu erklären.
Die künstlerischen Forscher*innen Laurent Jakimow, Melody Chua und Sebastiaan Cator stellen je eine digitale Plattform vor – wie beispielsweise Google Maps, Wikipedia, Zoom – und leiten uns an, diese spielerisch von ihrem Zweck zu entfremden.
Leitfragen: Wie kann man digitale Strukturen lesen und verstehen? Welche Möglichkeiten bieten sich diese zu durchkreuzen und welche Erkenntnisse werden dabei gewonnen?
Leitung: Laurent Jakimow, Melody Chua und Sebastiaan Cator
Der Workshop in der theoretischen Welt dient dazu die Verbindungen zwischen Queer Use und Game Theory zu erforschen. In die Diskussion von einschlägigen theoretischen Texten lassen wir die Diskussion der Erfahrungen der praktischen Workshops in der physischen und digitalen Welt einfliessen.
Mögliche Lektüre:
Ahmed, Sara: What‘s the Use? On the Uses of Use. Durham/London 2019.
Bogost, Ian: Play is in Things, Not in You. In: ders: Play Anything: The Pleasure of Limits, the Uses of Boredom, and the Secret of Games. New York 2016
Halberstam, Jack: Queer Gaming. Gaming, Hacking, and Going Turbo. In: Bonnie Ruberg und Adrienne Shaw (Hgs.): Queer Game Studies. Minnesota 2017.
Leitfragen: In welchem Verhältnis stehen reale und imaginierte Systeme? Kann Hacking als Queering geltend gemacht werden? Welche politischen Implikationen und welches subversive Potenzial sind an die Zweckentfremdung durch Queer Use geknüpft?
Leitung: Isabella Krayer, Carla Peca (Kein Museum)
Kein Museum Forschung und Vermittlung: Lara Baltsch, Dorothea Deli, Julie Delnon, Isabella Krayer, Carla Peca, Lara Vehovar
Künstlerische Forscher*innen: Laurent Jakimow, Melody Chua, Sebastiaan Cator
Grafik: Wanda Honegger
Konzept: Carla Peca