Wie wird Forschung praktiziert? Auf welche Weise werden Erkenntnisse von Strategien geformt? Mit welchen Medien und Mitteln denken wir über unsere Forschungsfragen nach? Und wie zeigen und vermitteln wir unser neu gewonnenes Wissen?
Solchen Fragen haben wir uns in einem gemeinsamen Kolloquium mit dem Masterstudiengang Kulturanalyse der Universität Zürich gewidmet. Entstanden sind vier Projekte, die den Sprung von der Theorie in die Praxis wagen und diese Reflexionen weg vom Papier in medialisierter Form weiterführen.
Begleitet wird das Keine Forschung Festival von drei Themengesprächen, in denen verschiedene Wissenschaftler*innen aus ihrer eigenen Forschungspraxis erzählen und diese diese Fragen aus unterschiedlichen Richtungen beleuchten.
Organisiert durch Isabella Krayer und Carla Peca
KICK-OFF / NEELE REMMERS – KRANKHEIT ALS KRITIK
Ein kurzer Film, der Krankheit als einen Zustand sieht, von dem aus eine Kritik geübt werden kann, die sich im Zustand der Gesundheit im Hintergrund hält. Literarische Situationen und theoretische Überlegungen u.a. von Virginia Woolf, Albert Camus, Michel Foucault und Charlotte Perkins Gilman unterstützen eine Analyse unserer gegenwärtigen Pandemiesituation.
TAMAR POLLAK – RE-LEKTÜRE
(Wie) lässt sich Geschichte wiederholen oder das Reenactment eines hundertjährigen Briefs? Ausgehend von Gilles Deleuzes’ Theorie der Differenz und Wiederholung erkundet das Projekt Möglichkeiten, eine historisierende Lektüre medial und sinnlich erfahrbar zu machen.
JULIAN OBERTOPP – (VIRTUAL) DWELLING
Ein Workshop, der zum Flanieren und Spekulieren in der Online-3D-Infrastruktur Sansar einlädt. Gemeinsam wollen wir über das Gestalten von zukünftigen Umgebungen im Digitalen und Analogen nachdenken. Welche Möglichkeiten bietet das Erkunden und Gestalten virtueller Welten, um über zukünftige Weisen des Zusammenlebens und des in der Welt Seins nachzudenken? / Für die Teilnahme am Workshop brauchst einen Sansar-Account (kostenlos).
ANKE SCHINDLER – HYPERTEXT
Das Cyborg Manifesto: Ein Text wie ein Netz. In jedem Satz laufen Fäden zusammen, jede Metapher spinnt wieder neue. Wie lässt sich dieses dicht verwobene Gebilde durchdringen? Hypertext ist der Versuch, eine assoziative Leseerfahrung zu verräumlichen.
09:30 – 11:00 Uhr
«DOING THEORY »
Matthew Wells/Benno Wirz (dt/en)
Dr. Matthew Wells (gta, ETH Zürich)
Das Modellieren ist ein grundlegender Mechanismus, über welchen wir das materielle Leben und die Gesellschaft als Ganzes verstehen und danach handeln. Unlängst interessieren sich eine Vielzahl von Disziplinen, inklusive der Soziologie und die Wissenschafts- und Technikgeschichte, vermehrt für die epistemische Funktion und das poetische Potential von Modellen. Ob als Demonstration, Experiment oder Vorschlag haben architektonische Modelle durch ihre Konstruktion und Verwendung
die Fähigkeit aufzuzeichnen, zu verändern und die materielle Welt zu erneuern. Modelle können kontingent oder idealisiert, abstrakt oder abbildhaft, absolut oder ephemer sein. In einem Raum zwischen Theorie und Welt situiert, ist einem Modell die Fähigkeit existierendes Wissen zu verkörpern sowie das Potential neue Erkenntnisse zu generieren inhärent. Wir werden über diese Ideen durch unsere gegenwärtige Erfahrung moderner Städte sowie durch die für viele als Taufe der modernen Welt wahrgenommene Weltausstellung in London 1851 nachdenken.
Modelling is a primary mechanism through which we make sense of and act upon our material lives and society at large. Recently a variety of disciplinary communities, including sociology and the history of science and technology, have been increasingly interested in the epistemic function and poetic potential of models. Whether as a demonstration, experiment, or proposition, through their construction and use, architectural models have the ability to record, alter, and remake the material world. Models can be contingent or idealised, abstract or representational, absolute or ephemeral. Situated in the space between theory and world, a model holds both the ability to embody existing knowledge and the potential to generate new understanding. We will think about these ideas through both our present experience of modern cities and what many have considered the baptism of the modern world: The Great Exhibition held in London in 1851.
Dr. des. Benno Wirz (Kulturanalyse, UZH)
Wie lässt sich mit Theater Theorie betreiben? Diese Frage bildet die ästhetische Herausforderung des Theaterprojekts «Gastmahl nach Platon», das 1998 im Vortragssaal des Zürcher Kunsthauses durch das Theater Neumarkt in der Regie von Stephan Müller realisiert wurde. Mit Blick auf dieses Theaterprojekt sollen im Themengespräch die Affinitäten von Theater und Theorie ausgelotet sowie die Frage gestellt werden, inwiefern sich der Begriff der Mimesis, jenseits der klassischen Auffassung als «Nachahmung», verwenden lässt, um Theorie als theatrale und somit ästhetische Praxis zu vollziehen.
How can theory be practiced through theatre? This question forms the aesthetic challenge of the theatre project «Gastmahl nach Plato», which was realised in 1998 in the lecture hall of the Zurich Kunsthaus by the Neumarkt Theatre and directed by Stephan Müller. With this project in mind, the discussion will explore the affinities between theatre and theory and ask to what extent the concept of mimesis, beyond the classical concept of «imitation», can be utilised to enact theory as a theatrical and thus aesthetic practice.
Lektüre:
Wells, Matthew: Relations and Reflections to the Eye and Understanding: Architectural Models and the Rebuilding of the Royal Exchange, 1839-44. In: Architectural History 60 (2017), S. 1–23.
Ott, Karl-Heinz und Stephan Müller: Das Gastmahl nach Platon. Frankfurt am Main 2010, S. 5–29.
Kittler, Friedrich: Philosophie der Literatur. Berliner Vorlesung 2002. Berlin 2013, S. 45–57.
11:30 – 13:00 Uhr
«ÜBERSCHREITUNGEN»
Daniela Hahn/Dorota Sajewska
Dr. Daniela Hahn (Deutsches Seminar, UZH), Prof. Dr. Dorota Sajewska (Slavisches Seminar, UZH)
Der Begriff Überschreitung impliziert, dass eine zuvor markierte Grenze begangen und überquert wird und dass diese Querung von Grenzen für andere sichtbar ist. Dies können geografische, kulturelle, politische, körperliche, moralisch-ethische, disziplinäre Grenzen sein. Die Überschreitung ist dabei ebenso befreiend wie beängstigend, denn sie markiert auf die eine oder andere Art auch eine Grenze zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Macht und Ohnmacht oder anders gesagt: zwischen einer bestimmten Position und ihrer langsamen oder abrupten Deplatzierung. Zu weit zu gehen ist als Provokation, Gefahr und Gewalt in der Überschreitung immer präsent.
Unter Bezug auf künstlerische Praktiken lotet dieses Themengespräch die Dynamiken aus, die sich mit Überschreitungen verbinden, und fragt nach dem Status des/der auf diese Weise Deplatzierten.
Lektüre:
Cole, Teju: Black Body. London 2016, S. 3–15.
Johnson, Dominic: Perverse Martyrologies. An Interview with Ron Athey. Contemporary Theatre Review, 18:4 (2008), S. 503–513.
14:00 – 15:30 Uhr
«ZEIGEN (ER)FORSCHEN»
Dieter Mersch/Henryetta Duerschlag
Henryetta Duerschlag (Institut Ästhetische Praxis und Theorie, FHNW)
Zeigen Zeigen
Als Autodidakt und Heinrich Wölfflin Alumni, gründete Hans Finsler 1932 die erste Fotofachklasse der Schweiz an der damaligen Kunstgewerbeschule in Zürich. Zu seinen bekanntesten Schüler*innen gehörten die Magnum-Fotografen Werner Bischof und René Burri, sowie Doris Stauffer, die die unabhängige Zürcher Kunstschule F+F gründete. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht Henryetta Duerschlag Modi der ästhetischen Wissensvermittlung in der Schweizer Moderne. Im Zentrum einer von drei Fallstudien, steht die Frage, wie Finsler seinen Schüler*innen das fotografische Sehen vermittelte. Dafür soll die Wirkung von Modalitäten wie Gesten, Sprache, Raum, Atmosphäre, Material und Technik in Finslers Unterrichtspraxis untersucht werden – anhand ihrer erneuten Erlebbarmachung. Wie sich historische Verfahren der ästhetischen Erziehung durch aktuelle Forschungsarbeit zeigen lassen – im Sinne vom Zeigen des Zeigens – wird sie im Gespräch mit Dieter Mersch diskutieren.
Prof. Dr. Dieter Mersch (Institut für Theorie, ZHdK)
Ästhetische Forschung und die Duplizitäten des Zeigens und Sichzeigens
In den gegenwärtigen Diskussionen über Kunst dominiert seit geraumer Zeit der Terminus des ‹artistic research› (auch: ‹Künstlerische Forschung›, ‹Practice-based Research›; ‹Research through Art› usw.). Der Ausdruck bleibt unterbestimmt, vor allem deswegen, weil der Begriff des ‹research› ungeklärt ist und mehrdeutig verwendet wird. Der Beitrag versucht erstens, die verschiedenen Lesarten des Konzepts zu rekonstruieren, zweitens dem ‹research› bzw. der ‹Forschung› mit Bezug auf die künstlerische Praxis einen genaueren Sinn zu erteilen, drittens den Vorschlag auszuarbeiten, anstelle von ‹artistic research› allgemeiner von «ästhetischer Forschung» zu sprechen, um auch andere als dezidiert künstlerische Praktiken – wie Design, Strategien der Ästhetisierung oder Kuratieren und Ausstellen – einzubeziehen und deren spezifische Intellektualität aufzuweisen. Eine wichtige Stellung nimmt darin viertens die Bestimmung des Ästhetischen selbst ein, dessen verschiedene Praktiken wiederum aus den Praktiken des Zeigens und Sichzeigens ausbuchstabiert werden. Zeigen aber bildet eine komplexe Weise der Kognition, die immer doppelt besetzt ist, soweit es einerseits deiktisch ‹auf etwas zeigt› und damit referenziell und transitiv verfährt, andererseits ‹etwas zur Erscheinung bringt› oder ‹vorführt› und folglich medial und intransitiv funktioniert. Ästhetische Forschung nutzt – als Weise ihrer Arbeit an ‹Präsentifikationen› – genau diese Duplizität aus und ermöglicht dadurch eine sehr eigene Form von Erkenntnis.
Lektüre:
Henke, Silvia und Dieter Mersch et al.: Manifest der Künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter. Versetzt mit «Bildstücken» – Deklination einer Collage von Sabine Hertig (2019), Zürich 2020, S. 5–63.
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